Doch was oder wem begegnen wir hier? Zunächst ist diese Sammlung mit durchgehend anspruchsvollen Werken dramaturgisch verblüffend: Von den herrlichen, mit gründerzeitlicher Prachtentfaltung ausgeschmückten Bach-Bearbeitungen Busonis über die schlichteren Choralvorspiele von Brahms, welche die erschütternde Todesthematik der „Vier ernsten Gesänge“ in der Reger-Bearbeitung vorbereiten, bis zu den von Regers verhaltenem Nachtlied eingeleiteten zarten Klanggespinsten Morton Feldmans sind die einzelnen Werke zueinander so sinnstiftend aufgebaut, dass sie ein neues Ganzes ergeben. Das fragile, knapp halbstündige Werk von Feldman stellt, wie Anselm Cybinski in seinem prägnanten Einführungsessay schreibt, den „Fluchtpunkt“ des Albums dar, das er als „eine Art gestrecktes Diminuendo“ bezeichnet.
Igor Levit schlägt gleichsam einen Spannungsbogen von der Expression zur Meditation. In dieser pianistisch eindringlich dargestellten Reise der vielen musikalischen Begegnungen – von der religiösen Emphase des ersten Choralvorspiels bis zur stillen Versenkung in Feldmans Klangräumen – ist Igor Levit hier vor allem etwas gelungen, was in unserer auf vielfältige Zerstreuung ausgelegten Welt bei jedem von uns immer mehr droht, verlustig zu gehen: die Begegnung mit sich selbst.
Frank Siebert

Igor Levit | Encounter - Bach/Busoni
Igor Levits neues Album besticht vor allem durch seine Konzeption. Aufgenommen im Mai 2020, der Phase des Lockdowns, ist die Einspielung ein starker künstlerischer Reflex auf eine existenzielle Krisensituation. Der rätselhafte Titel „Encounter“ weist gerade in einer kontaktarmen Zeit darauf hin, wie sehr wir der Begegnung bedürfen.
Bei unseren Partnern erhältlich als CD oder Download:
Encounter. Bach/Busoni: 10 Choralvorspiele, Brahms/Busoni: 6 Choralvorspiele, Brahms/Reger: Vier ernste Gesänge, Reger/Becker: Nachtlied, Feldman: Palais de Mari; Igor Levit (2020); Sony Classical (2 CDs)